Richard Kuöhl in den USA:
Die Jungfer vom Jungfernstieg und die Sea Maidens (1924 und 1930)

Sea Maidens im Robert-Allerton-Park©Lee's Travel Guide
Foto©Lee's Travel Guide mit freundlicher Genehmigung von Lee's Travel Guide. Das Foto ist Bestandteil der dortigen Seite über den Allerton-Park (abgerufen 6.8.2011). Man gelangt zu der Seite über die Auswahlpunkte Home > Miscelleaneous > Allerton Park.

Die Jungfer vom Jungfernstieg auf dem Hapag Verkehrspavillon

HAPAG-Verkehrspavillon am Jungfernstieg (1924, Postkarte, Verlag Max Schröder in Hamburg 5)
Der Jungfernstieg gilt als eine der schönsten Straßen Hamburgs. Die Reederei Hapag ließ sich auf der zur Binnenalster hin gerichteten Straßenseite einen runden Pavillon errichten. Der „Verkehrspavillon der Hapag” wurde am 31.3.1924 eröffnet. Auf seinem Dach stand als Krönungsfigur eine Frauenstatue. Auf den Fingerspitzen ihrer linken Hand balanciert die Frau das Modell eines Segelschiffes. Das Schiff hat eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Wikingerschiff. Die Spitzen des gesteckten Daumens und des Zeigefingers der rechten Hand liegen aufeinander und bilden eine Öffnung. Durch diese Öffnung führt eine lange Efeuranke. Die Ranke kommt vom Boden, geht weiter durch die erhobene rechte Hand, dann über den Rücken bis zum linken Unterarm.

Die Frau ist eine Jungfer, vielleicht sogar eine Meernymphe oder Okeanide, d.h. eine Tochter des griechischen Meergottes Okeanos. Ihr Schiff symbolisiert die Schifffahrt und die Efeuranke wird auf die Verbundenheit der Schifffahrt mit dem Standort hinweisen. Efeu ist eine Kletterpflanze und seine Ranken klammern sich fest — deshalb hat es die symbolische Bedeutung von Treue und Verbundenheit. Bei Verwendung auf Friedhöfen hat es die zusätzliche Bedeutung von ewigem Leben.

Die Frau ist fast genauso gekleidet, hat die gleiche Frisur und die gleiche Statur wie „Die Trauernde / Die Sinnende” auf dem Ohlsdorfer Friedhof bei den Feuerwehrgräbern.

Die Frauenstatue auf dem Dach des Pavillons wurde von Kuöhl entworfen. Es ist eine Kupfertreibarbeit. Ausgeführt hat sie die 1832 gegründete Bildgießerei Martin & Piltzing in Berlin-Wedding.

Der Verkehrspavillon wurde 1968 wegen des Baus der Erweiterung der U-Bahn-Haltestelle Jungfernstieg und Einrichtung der neuen S-Bahnhaltestelle Jungfernstieg abgerissen. Die Alsterseite des Jungfernstiegs wurde bei dieser Gelegenheit neu gestaltet und auch ein neuer Verkehrspavillon wurde 1975 gebaut. In seinem Inneren wurde die Statue ausgestellt. Lange stand dieser neue Verkehrspavillon nicht, denn die Alsterseite des Jungfernstiegs wurde von Mitte 2004 bis fast Mitte 2006 erneut umgebaut. Hapag Lloyd stellte die Statue im Eingang Ferdinandstraße ihres Verwaltungsgebäudes auf. Das war sicher eine gute Entscheidung, denn schon im April 2008 wurde der östliche alsterseitigen Teil des Jungfernstiegs erneut und für mehrere Jahre zur Großbaustelle.

Einige Politiker forderten 2005, die Statue nicht zu verstecken, sondern sie frei zugänglich aufzustellen. Das spricht für den Wert und die Bedeutung der Statue! Aber Hapag Lloyd weigerte sich aus guten Gründen — schließlich gehört die Statue der Reederei und nicht der Stadt Hamburg. Auch wird der Eingang des historischen Verwaltungsgebäudes sicher nicht alle paar Jahre und dann auch noch jahrelang umgebaut! In der Zeitung „Hamburger Morgenpost” steht ein lesenswerter Artikel über den fehlgeschlagenen besitzergreifenden Vorstoß der Politiker.

Als Folge einer Wirtschaftskrise ging es 2008/2009 der Reederei Hapag Lloyd wirtschaftlich schlecht. Die Reederei wurde vom Hamburger Staat unterstützt. Die Politiker hatten im Zusammenhang mit der Gewährung der staatlichen Unterstützung die Chance verpasst, Hapag Lloyd dazu zu überreden, die Statue im Sinne ihrer Forderung von 2005 frei zugänglich aufzustellen.

Da die Statue nun im Inneren eines Gebäudes steht und weil Richard Kuöhl 1961 verstorben ist, kann man vermutlich nicht vor 2032 legal Fotos von der Statue machen und veröffentlichen (vergleiche § 59 des Urheberrechtsgesetzes). In der Literatur, z.B. im Buch Rudolf Schmidt, ist ein Foto der Statue enthalten. Es zeigt die Statue bevor sie auf dem Dach des Verkehrspavillons aufgestellt wurde.

Man kann die Statue vom Bürgersteig der Ferdinandstraße aus durch die Glasscheibe der Eingangstür sehen. Besonders gut geht es, wenn es draußen dunkel ist und die Eingangshalle jenseits der Tür beleuchtet ist.

Die „Sea Maidens”

Sehr ähnlich sehen zwei Statuen „Sea Maidens” im Robert-Allerton-Park bei Chicago aus. Sie stehen zu beiden Seiten des Eingangs zum mit Ziegeln ummauerten „Brick Walled Garden” in der Nähe des Herrenhauses.

Die eine Statue ist das Spiegelbild der anderen. Der wesentliche Unterschied zur Statue vom Hamburger Jungfernstieg ist schnell beschrieben. In Hamburg balanciert die Statue ein Segelschiff, im Robert-Allerton-Park balanciert jede Statue eine Schale. Bei der Statue vom Jungfernstieg ist der Kopf leicht seitlich geneigt und die Frau schaut in Richtung zum Segelschiff. Die Sea Maidens halten die Köpfe gerade und blicken nach vorne. Dadurch wirken sie etwas strenger als ihr Vorbild vom Jungfernstieg.

Ein weiterer Unterschied besteht in der Interpretation. Die Ranke der Statue vom Jungfernstieg wird als Efeuranke interpretiert. Bei der Bestellung der beiden Statuen für den sich damals im Aufbau befindlichen späteren Robert Allerton Park hatte Robert Allerton Ranken von Wasserpflanzen („Seaweed”) geordert.

Der letzte Unterschied ist vielleicht keiner, sondern beruht möglicherweise auf der Fortpflanzung von Falschinformationen. Die Statue vom Jungfernstieg ist Kupfertreibarbeit. Bei der Beschreibung der Statuen im Robert-Allerton-Park habe ich keinen Hinweis auf Kupfer gefunden, sondern es wird immer von Bronze geschrieben. Es ist ziemlich sicher, dass die Statue vom Jungfernstieg wirklich nicht aus Bronze besteht, denn im Buch von Rudolf Schmidt steht der Hinweis „in Kupfer getrieben” an zwei unterschiedlichen Stellen: Im von Rudolf Schmidt verfassten Textteil und in der von Martin & Piltzing veröffentlichen Anzeige im Anhang.

Wie kam es zu den „Sea Maidens?”
Robert Allerton sowie sein Lebenspartner und späterer Adoptivsohn John Gregg führten einige gemeinsame Reisen in ferne Länder und Kontinente durch. Auf den Reisen erwarb Robert Allerton Statuen für seinen großen Landsitz. In Hamburg erblickten sie 1930 auf dem Dach des Hapag-Pavillons am Jungfernstieg die Statue. Sie beauftragen Richard Kuöhl mit der Fertigung zweier sehr ähnlicher Statuen. Kuöhl schlug dazu eine Frauenstatue und eine passende Männerstatue vor. Robert Allerton entschied sich jedoch für die beiden spiegelbildlichen Frauenstatuen: Eine Männerstatue sei zu statisch und ihr würde die Grazie und der Charme der Weiblichkeit fehlen (too static and without the grace and charm of the female.)

Jede der neu geschaffenen Statuen balanciert statt eines Segelschiffes eine Schale des Überflusses — „bowl of plenty” — auf den Fingerspitzen ihrer Hand. „Plenty” hat in diesem Zusammenhang die mögliche Bedeutung Fruchtbarkeit, Reichtum oder Überfluss. „Horn of plenty” würde mit „Füllhorn” übersetzt werden. Die nordamerikanischen Prärien im Osten sind ein gutes Weideland und sie sind fruchtbar — hier wird Weizen und Mais im großen Stil angebaut.

Wie es dazu gekommen, dass die US-Amerikaner Robert Allerton und John Gregg Hamburg besuchten? John Gregg Allerton, der ehemalige John Gregg, wurde 1984 interviewt. Die University of Springfield hat dankenswerterweise eine Mitschrift des Interviews und eine knapp gehaltene Biografie seines Adoptivvaters Robert Allerton als PDF-Datei ins WWW gestellt. Der Text im folgenden blau hinterlegten Teil enthält einige biografische Informationen überwiegend aus dieser Quelle. Bei den in den Quellen angegebenen Jahreszahlen sind einige Widersprüche vorhanden. Die vermutlich richtige Jahreszahl wird an erster Stelle genannt, davon abweichende Jahreszahlen sind in eckigen Klammern mit einem Fragezeichen angegeben. Besonders krass sind die Abweichungen beim Jahr der Adoption.

Robert Allerton (*20.3.1873 Chicago; †1964) war der einziger Sohn und Erbe des Chicagoer Rinderzüchters, Gründers der First National Bank of Chicago und Mayflowernachkommens Samuel Waters Allerton (*1828; †1914). Samuel All Waters Allerton erwarb ein Vermögen mit Viehhöfen (Stockyards; Plätze auf denen Viehherden zusammengehalten werden, bevor sie weitertransportiert werden). Er war einer der Gründer von Chicago's Union Stock Yards.

Robert wollte Maler werden. Er studierte an der Kunstschule und anschließend 5 Jahre in München, Paris und London. Dann kam er zu der Erkenntnis, das er nie Gemälde zu seiner eigenen Zufriedenheit schaffen könne. Er verbrannte sie und kehrte 1897 nach Illinois zurück, um das ausgedehnte Farmland seines Vaters zu verwalten.

1902 wurde das neue im englischen Stil erbaute Herrenhaus in der Prärie an der Nordseite des Sangamon-Flusses nahe Monticello fertig gestellt. Es beinhaltet 40 Räume mit zusammen 30000 Quadratfuß (etwa 2750 m²). Vorbild war das Ham House, Richmond-upon-Thames, England 1610. Robert begann hier eine Reihe französischer Gärten (formal gardens) zu gestalten. Die Gesamtfläche des zugehörigen jetzigen Robert Allerton Parks einschließlich seiner Auen, Prärien, Waldgebiete, Gärten und Bauernhöfe beträgt 6 km².

Robert Allerton war ein Multimillionär, Kunstkenner und Menschenfreund von nationaler Reputation. Er lebte unauffällig und war außerhalb seines sozialen Kreises kaum bekannt.

John Gregg, später John Gregg Allerton (*?.11.1899; †1986 [1985?], lernte 1922 Robert Allerton kennen. 1926 beendete John Gregg sein Architekturstudium und zog nach Chicago um. Robert Allerton verhalf ihm zu einem Job im Büro eines Freundes. Einige Zeit später lebte John während der Sommermonate in der Stadtwohnung von Robert. Robert selbst lebte im Herrenhaus am Sangamon-Fluss. Im Winter lebten sie zusammen.

Robert überzeugte den Arbeitgeber von John, dass John ein besserer Architekt würde, wenn John auf Weltreisen ginge. Robert war einsam — deshalb wurde er auf seinen Weltreisen von John begleitet. Robert stellte John Gregg als seinen Sohn John Allerton vor, denn es wäre befremdend gewesen, ihn als John Gregg vorzustellen. Die rechtlich legale Adoption erfolgte jedoch nicht vor dem 1.1.1960, denn vorher war es in Illinois einem Erwachsenen nicht möglich, einen anderen Erwachsenen zu adoptieren.

Im Interview berichtet John Allerton, dass bereits als er selbst in das Herrenhaus einzog, ausgedehnte Gärten vorhanden waren. Die Interviewerin entlockte ihm anschließend einige Details. Die Gestaltung der Gartenanlagen ab dann ist demnach das gemeinsame Werk von Robert Allerton und John Gregg.

Die Statuen erwarben sie auf ihren Reisen sowohl geplant als auch spontan. Die Reisen waren so angelegt, dass sie fast immer zur Weihnachtszeit und immer an Roberts Geburtstag (20.3.) verreist waren.

John Gregg berichtet u.a., dass sie mehrmals im Hamburg im „Rathskeller” waren. Gemeint ist vermutlich der Ratsweinkeller im Hamburger Rathaus. 1930 kam es zur Bestellung der Statuen bei Richard Kuöhl.


Bereits 1938 hatte Robert Allerton auf Hawaii ein Grundstück zum Wohnen und zur Ausübung der Gartenarchitektur erworben. Damit legte er den Grundstein für einen tropischen botanischen Garten. Der Garten heißt mittlerweile „Allerton Garden” und ist öffentlich.

1946 schenkte Robert Allerton seine Liegenschaft am Sangamon-Fluss der University of Illinois. Auch der Robert-Allerton-Park ist öffentlich.

Benutzte Quellen, soweit aus dem WWW mit Stand August 2010:
Letztes Upload: 24.03.2023 um 18:32:07 • Impressum und Datenschutzerklärung