Science Museum in London:
„Rocket” und Rainhill

Das ganz große Eisenbahnmuseum ist das Science Museum in London nicht — es ähnelt mehr dem Deutschen Museum in München und behandelt verschiedenste Themen der Technikgeschichte.

Rocket (Science Museum)

Rocket (Science Museum) Bei wirklich alten Dampfloks ist das Science Museum jedoch groß — es besitzt die berühmte Lokomotive „Puffing Billy” des Erbauers William Hedley von 1813 und besaß die noch berühmtere „Rocket” von 1829. Die „Rocket” steht seit September 2019 im National Railway Museum in York.[Wikipedia, Liste vor 1839 gebauter Lokomotiven, Abruf 17.1.2022]
Die am 28.8.2005 im Science Museum fotografierte „Rocket” sieht jedoch ganz anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte: Die Zylinder gingen steiler nach unten und der Schornstein war vorn unten nicht umkleidet.

Die Lösung des Rätsel fand ich auf der Website des Science Museums: Die Lokomotive „Rocket” wurde 1831 umgebaut. Die ursprünglich steile Anordnung der Zylinder ist gewählt worden, um Platz für die Federung zu schaffen. Allerdings machten sich bei steigendem Tempo heftige Stöße bemerkbar. Robert Stephenson führte dies auf die schräggestellten Zylinder zurück. Er veränderte die Stellung der Zylinder mehrmals, bis sie nahezu waagerecht angebracht waren. Bei der vorderen Umkleidung des Schornsteinfußes könnte es sich um eine Rauchkammer handeln. Sie wurde eingebaut, damit man die Flammrohre auch von der Vorderseite der Lokomotive aus säubern konnte.

Die Lokomotive „Rocket” lief auf der Liverpool & Manchester Railway von 1829 bis 1836. Dann gelangte sie zur Grubenbahn Midgeholme Colliery Railway im County Durham in der Nähe von Carlisle. Dort arbeitete sie bis 1840.

Im Zusammenhang mit der „Rocket” werden drei Namen genannt:

  1. George Stephenson (*8.6.1781 in Wylam, Northumberland, †12.8.1848 in Chesterfield),
  2. Robert Stephenson (*16.10.1803 in Willington Quay, †12.10.1859 in London),
  3. Henry Booth
Diese drei Herren hatten in Newcastle-upon-Tyne eine Lokomotivfabrik gegründet und nach Robert Stephenson benannt.

Wie es zu dem Lokomotivrennen von Rainhill kam

Während der Planung für die etwa 56 km lange Eisenbahn zwischen Liverpool und Manchester kam man auf alle möglichen Ideen über das Antriebsverfahren für die Züge. Zur Diskussion standen Dampflokomotiven, ortsfeste Dampfmaschinen (Kabelbahn und Seilwinden) und Pferdebahn. George Stephenson war am Bau beteiligt und hatte eine Idee, die perfekt zur Wettleidenschaft der Engländer passte: veranstalten wir einen Wettbewerb, damit die Lokomotivbauer leistungsfähige Dampflokomotiven vorführen können. Die Teilnahmebedingungen versprachen dem Sieger 500 £ Preisgeld und den Auftrag für die Ausstattung der Bahn mit den benötigten Lokomotiven. Teilnehmen durften Dampfloks mit folgenden Eckdaten: Die Lokomotive soll

Die Vorschrift zu den Sicherheitsventilen hat gute Gründe gehabt. Im März und Juli 1828 hatten sich Explosionen von Lokomotivkesseln ereignet, bei denen jeweils ein Mitglied der Lokomotivbesatzung ums Leben kam. In beiden Fällen war das Sicherheitsventil manipuliert worden.
Im Original lautet die Ausschreibung folgendermaßen:

1. The engine must consume its off smoke.

2. The engine, if of 6 tons weight, must be able to draw after it, day by day, 20 tons weight (including the tender and water tank) at 10 miles an hour, with a pressure of steam on the boiler not exeecding 50 pounds to the square inch. Anmerkung: In der allerersten veröffentlichten Ausschreibung stand sinngemäß: „The load attached to each engine should be three times the weight of the engine”.

3. The boiler must have two safety valves, neither of which must be fast ended down, and one of them completely out of the control of the engine man.

4. The engine and boiler must be supported on springs, and rest on 6 wheels, the height of the whole not exceeding 15 feet to the top of the chimney.

5. The engine, with water, must not weigh more than 6 tons; but an engine of less weight would be preferred, on its drawing a proportionate load behind it; if of only 4.5 tons, then it might be put only on 4 wheels. The company to be at liberty to test the boiler, etc., by a pressure of 150 pounds to the square inch.

6. A mercurial gauge must be affixed to the machine, showing the steam-pressure above 45 pounds to the square inch.

7. The engine must be delivered, complete and ready for trial, at the Liverpool end of the railway, not later than the 1st of October, 1829.

8. The price of the engine must not exceed £550.

Hinweis zum Nachrechnen:
1 ton (britisch) = 1016,5 kg, 1 pound (britisch) = 0,453592 kg

George Stephenson schätzte die Wichtigkeit des von ihm angeregten Wettbewerbs als sehr hoch ein. Die 3-Jahresverpflichtung seines Sohnes Robert in Südamerika neigte sich dem Ende zu. Robert trat im August 1827 die Rückreise nach England an. Dies war die Reise, auf der Robert Stephenson dem Eisenbahnpionier Richard Trevithick aus der Patsche half und ihm die Rückreise von Kolumbien nach England ermöglichte. Beide erreichten England im November 1827.

Henry Booth war zu dieser Zeit Geschäftsführer der Liverpool & Manchester Railway. Er war mit George Stephenson befreundet und brachte die Idee mit dem vielrohrigen Flammrohrkessel ein. Die heißen Verbrennungsgase durchlaufen auf ihrem Weg von der Feuerung zum Schornstein Rohre, die durch das Wasser im Kessel geführt sind. Vorher war es genau umgekehrt — das zu erhitzende Wasser befand sich in den Rohren, die heißen Gase strömten um die Rohre herum.

Das Rennen und seine Folgen

Zum Lokomotivrennen — es dauerte mehrere Tage — kamen etwa 15000 Besucher. Es fand etwa 9 Meilen östlich von Liverpool beim Ort Rainhill auf einer bereits gelegten vollständig ebenen Bahnstrecke statt.

Rainhill Lokomotivrennen, Streckenposten Bild links: 1 bis 9 sind die Postennummern. Die Brüche unterhalb geben die Entfernung zwischen den Posten in Meilen an.
Die beiden kurzen Abschnitte an den Enden der Strecke dienen zum Beschleunigen und zum Bremsen. Posten 2 bis 8 sind die Streckenposten zum Messen der Geschwindigkeit. Sie haben einen Abstand von genau ¼ Meilen. Die Gesamtstrecke ist 1,75 Meilen lang; der Anteil der „Rennstrecke” daran beträgt 1½ Meilen.

10-maliges Hin- und Herfahrten auf der gesamten Teststrecke (1 bis 9) entspricht der späteren Gesamtstrecke zwischen Liverpool und Manchester. Insgesamt war die Teststrecke 20-mal in beiden Richtungen zu durchfahren. Nach der zehnten Hin- und Herfahrt durfte der Wasser- und Kohlevorrat aufgefüllt werden.

Wie es sich für englische Rennveranstaltungen gehört, war fleißig gewettet worden. Die Teilnehmer waren:

  1. Der Favorit hieß „Novelty” (Neuheit)— es war die hübscheste Lokomotive des Rennens: in Blau mit viel glänzendem Kupfer. Erbauer waren Braithwaite und Ericsson aus London. Sie hatten die Lokomotive in nur sechs Wochen auf der Grundlage von dampfbetriebenen Straßenfahrzeugen zusammengebaut. Ihr Wassertank war im Lokomotivrahmen untergebracht und ragte zwischen den Rädern nach unten heraus. Alle anderen am Lokomotivrennen teilnehmenden Dampflokomotiven waren auf einen Schlepptender angewiesen, Die &Novelty” gilt als die erste Tenderlokomotive der Welt.

  2. Timothy Hackworth, ein ehemaliger Mitarbeiter von George Stephenson und danach dessen Nachfolger als Verantwortlicher für die Lokomotiven der Stockton & Darlington Railway, führte die „Sans Pareil” (Ohnegleichen) in den Farben grün, gelb und schwarz vor. Der hohe Schornstein wurde ganz oben von einer gezackten Krone geschmückt. Die Lokomotive war eine verkleinerte zweiachsige (Achsfolge B) Version der dreiachsigen (Achsfolge C) Lokomotive „Royal George” der Stockton & Darlington Railway. Als Erbauer der „Royal George” gilt Timothy Hackworth.

  3. Burstall aus Edinburgh kam mit der „Perseverence” (Ausdauer). Sie hatte besonders hübsche rot angestrichene Räder.

  4. Die „Rocket” war ganz in gelb mit schwarzen Applikationen. Lediglich der Schornstein war weiß! Genau wie bei der „Sans Pareil” schmückte eine gezackte Krone den Schornstein.

  5. Die Lokomotive „Cycloped” (Zyklopenfuß) von Brandreth aus Liverpool wurde nicht als Teilnehmer akzeptiert, da sie statt von einer Dampfmaschine durch zwei Pferde auf zwei Laufbändern angetrieben wurde.

Timothy Hackworth und „Royal George”:
Timothy Hackworth (*1786; †1850) war von 1825 bis 1840 Ingenieur bei der Stockton & Darlington Railway.

1827 besaß die Stockton & Darlington Railway 6 Lokomotiven: Locomotion, Hope, Black Diamond, Dilligence, Chittaprat und Experiment. „Chittaprat”, gebaut von Robert Wilson, war trotz schlechtem Eignungstest gekauft worden. Der Preis war niedrig, aber der Kessel war gut. Die Stockton & Darlington besaß also nur 5 brauchbare Lokomotiven. „Brauchbar” ist relativ gemeint. Nach heutigen Gesichtspunkten wären sie unzuverlässig. Aber dennoch, ihre Betriebskosten sparten gegenüber dem Pferdebetrieb etwa 30%.

Modell der Lokomotive „Royal George” im Science Museum

Im Oktober 1827 verunglückte eine Lokomotive in Stockton Quay. Es musste Ersatz her! Timothy Hackworth durfte die unbrauchbare „Chittaprat” übernehmen. Er verwendete den Kessel der verunglückten Lokomotive zum Bau der ersten wirklich erfolgreichen Lokomotive der Stockton & Darlington Railway: die „Royal George”.

Bild links: Es wird vermutet, das Hackworth selbst dies Modell im Maßstab 1:16 gebaut hat, um den Direktoren der Stockton & Darlington Railway die Zuverlässigkeit seiner Konstruktion zu demonstrieren.

Die etwa 10 PS starke Rocket gewann das Rennen. Es stellte sich heraus, dass die Rocket die einzige funktionstüchtige Dampflokomotive war, denn nur sie überstand das Rennen ohne Schaden. Die „Perseverence” erreichte nur Schrittgeschwindigkeit, „Novelty” und „Sans Pareil” standen den Wettbewerb nicht durch.

Das Ergebnis des Rennens sieht in Tabellenform so aus:

Lok und HerstellerGeschwindigkeit bei Last mit dreifachem Eigengewicht der LokomotiveGeschwindigkeit bei Last mit einem besetzten PersonenwagonBrennstoffkosten pro Meile
„Rocket”, Robt. Stephenson, Newcastle12½ mph24 mph1½ Pence
„Novelty”, Braithwaite & Ericsson, London20½ mph32 mph¼ Pence
„Sans Pareil”, Hackworth, Darlington12½ mphnicht ermittelt, da Lokschaden2 Pence
Der Verlauf des Rennens in Tabellenform:
Quelle: Berichte aus dem Mechanics Magazine von 1829. In der deutschsprachigen Literatur gibt es stark abweichende Darstellungen zum Rennverlauf.
Wochentag
Okt. 1829
Ereignisse
Die., 6.Erfolgreiche Testfahrt der „Rocket” (sie zog das Dreifache ihre Eigengewichtes mit einer Geschwindigkeit von knapp über 10 Meilen pro Stunde), Leerfahrten der „Sans Pareil” und der „Novelty”. Die „Cycloped” zog außerhalb des Wettbewerbs einige(?) mit insgesamt 50 Personen besetzte Wagen. Das Gewicht dieses Zuges betrug 5 Tonnen, die erreichte Geschwindigkeit 5 Meilen pro Stunde.
Mi., 7.Testfahrt der „Novelty”.
Do., 8.Der Veranstalter veröffentlicht geänderte Regeln.

Testfahrt der „Rocket”

Fr., 9.Aufgrund der geänderten Regeln wird die für heute vorgesehene Testfahrt der „Novelty” auf den folgenden Tag verschoben.
Sa., 10.Testfahrt der „Novelty”. Beim ersten Probelauf bricht ein Rohr. Die Zeit der Reparatur wird durch zwei Umläufe der „Rocket” ohne Tender überbrückt. Die „Rocket” legt die sieben Meilen in 14:14 Minuten zurück. Anschließend macht die reparierte „Novelty” einige Fahrten, jedoch außerhalb des Wettbewerbs.
So., 11.kein Betrieb
Mo., 12.
Die., 13. Testfahrt der „Sans Pareil”. Die ersten 25 Meilen läuft es recht gut, dann platzt ein Pumpenrohr (oder ist das Blei einer Dichtung in der Feuerkammer aufgrund von Wassermangel im Boiler geschmolzen? Die Angaben in den verwendeten Quellen widersprechen sich hier). Außerdem trat ein Riss an einem Zylinder auf. Da der Zylinder in der Stephensonschen Lokomotivfabrik gegossen worden war, führte dies zu Verstimmungen zwischen Timothy Hackworth und den Stephensons.[126, Seite 85]
Mi., 14. „Novelty”, 2.Versuch der Testfahrt vom 10.10. Nach dem zweiten Umlauf zeigen sich Undichtigkeiten am Kesselflansch. Der Verbindungskitt war seit der Reparatur noch nicht ausgehärtet. Am Abend des 14.10. wird die „Novelty” aus dem Rennen genommen, da eine weitere Reparatur aufgrund der langen Aushärtezeit des Kitts etwa eine Woche Verzögerung bringen würde.

Nach dem Abbruch der Testfahrt der „Novelty” geht die reparierte „Perseverence” außerhalb des Wettbewerbs auf die Strecke (sie wurde auf dem Transport nach Liverpool beschädigt). Sie erreicht lediglich eine Geschwindigkeit von 5 Meilen pro Stunde.

Die Preisrichter sprechen der „Rocket” den Preis zu.

Technische Daten der „Rocket”
Typ:Prototyp
Hersteller:Robt. Stephenson & Co., Newcastle
Bauart/Achsfolge:Nassdampf /1A
Zylinder (Ø * Hub):zwei außenliegende, 203 * 432 mm
Kesseldruck:3,5 bar
Heizfläche:12,8 m²
Boiler:6 Fuß lang, 25 Flammrohre aus Kupfer mit 3 Zoll Durchmesser. (In allen mir bekannten Texten ist von 25 Flammrohren die Rede. Es existieren voneinander abweichende Schnittzeichnungen des Kessels der Rocket, in der die 25 Flammrohre der Rocket in unterschiedlichen Anordnungen eingezeichnet sind. In einer dieser Schnittzeichnungen sind nur 24 Flammrohre zu sehen.)
(1 Zoll=25,4 mm)
Feuerbüchse:Breite 3 Fuß, Höhe 3 Fuß, Tiefe (=Länge) 2 Fuß.
(1 Fuß=30,5 cm)
Baujahr:1829
Treibraddurchmesser:1435 mm
Laufraddurchmesser:830 mm
Spurweite:1435 mm
Gewicht ohne Tender:4,2 t (in englischen Maßen: 4 tons, 3 cwt)
Gewicht mit Tender:7,4 t
Leistung:10 PSi
Länge über Puffer
mit Tender:
6,56 m
Länge über Puffer
ohne Tender:
3,85 m
Geschwindigkeit:47 km/h

Nach dem Wettbewerb

Nach dem Wettbewerb erbot sich die Liverpool & Manchester Railway, die „Novelty” und die „Sans Pareil” zu erwerben. Timothy Hackworth hatte alle seine Geldmittel in die „Sans Pareil” gesteckt — so nahm er dies Angebot gerne an. John Braithwaite und John Ericsson lehnten ab.

Die Strecke wurde 1830 mit 8 Lokomotiven der Bauart „Rocket” und 4 weiteren Lokomotiven der fortschrittlicherer Bauart „Northumbrian” eröffnet.

John Ericsson (*1803; †1889) beschäftigte sich anschließend mit dem Schiffbau und entwickelte 1836 erfolgreich einen Schiffspropeller. Da ihm die Unterstützung in England fehlte, wanderte er 1839 in die USA aus. Hier entwarf er 1849 das Kriegsschiff „Princeton” und später das Panzerschiff „Monitor”.

Mit der Princeton wurde erstmals ein Schiffspropeller zum Antrieb eines Kriegsschiffes eingesetzt. Sie war weiterhin das erste Kriegsschiff mit einem Eisenrumpf. Die ab Oktober 1861 gebaute „Monitor” war ein flaches, 64 m langes und vollständig gepanzertes Schiff. Es besaß keine Aufbauten, sondern lediglich einen Geschützturm. In ihm befanden sich zwei 26,9 cm Vorderladerkanonen. Bereits am 8. und 9.März 1862 beschossen sich die „Monitor” und das mit Eisenbahnschienen gepanzerte Batterieschiff „Merrimac” der Südstaaten stundenlang mit Vollkugeln und Granaten. Die Panzerungen beider Schiffe hielten stand, es wurde angeblich niemand verletzt.

Ericsson hat sich mit etlichen anderen Innovationen beschäftigt. Hierzu gehören Torpedos, Heißluftmotorantrieb und Solarmaschine mit Sammelspiegel.

John Ericsson starb am 8. März 1889 in New York. Ein Denkmal für ihn steht im Battery Park an der Südspitze Manhattans.

Robert Stephenson (*1803; †1859) starb etwa einen Monat nach seinem Freund Sir Isambard Kingdom Brunel. Robert Stephenson hatte den Adelstitel abgelehnt. Er wurde in Würdigung seines Lebenswerkes in der Westminster-Abtei beigesetzt. Für seinen Vater George Stephenson hatte Königin Viktoria in der Westminster-Abtei ein Denkmal neben Nelson, Shakespeare, Watt und Wellington errichten lassen.


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Letztes Upload: 09.07.2023 um 11:21:26 • Impressum und Datenschutzerklärung